Urteil: Abwassergebühren in vielen NRW-Kommunen rechtswidrig

Entlastung für die Abwassergebührenzahler in NRW: Die Kommunen dürfen bei der Kalkulation ihrer Abwassergebühren nur die Zinsen der letzten zehn Jahre zugrunde legen. Wenn sie vom Wiederbeschaffungszeitwert abschreiben, müssen sie die realen Zinsen berücksichtigen. Mit dieser Entscheidung im Musterprozess des Bundes der Steuerzahler NRW (BdSt) hat das Oberverwaltungsgericht NRW seine bisherige Rechtsprechung geändert. „Die Richter teilen voll und ganz unsere Auffassung“, erklärt Rik Steinheuer, Vorsitzender des BdSt NRW. „Abwassergebühren sind dazu da, die kommunale Abwasserbeseitigung sicherzustellen – und nicht, auf Kosten der Gebührenzahler satte Gewinne abzuschöpfen.“ Für Abwassergebührenzahler, die gegen ihren Bescheid Widerspruch eingelegt hatten oder deren Bescheid noch nicht rechtskräftig ist, könnten lauf BdSt NRW von dem Urteil profitieren, wenn es nicht zu einer Fortsetzung des Verfahrens kommt.

Bund der Steuerzahler kritisierte zu hohen Sicherheitszuschlag und empfahl Widerspruch

Der BdSt NRW hatte auf der Grundlage seiner Gebührenerhebungen festgestellt, welche Kommunen im Land Nach der bisherigen Rechtsprechung kann bei der Kalkulation der Abwassergebühr für das Jahr 2022 ein Zinssatz von maximal 5,742 Prozent auf das so genannte gebundene Kapital berücksichtigt werden. Dieser Wert bezieht allerdings einen Sicherheitszuschlag in Höhe von 0,5 Prozentpunkten ein. Hintergrund dafür ist, dass die Kreditzinsen die Anlagezinsen in der Regel überstiegen und Fremdkapitalanteile zu einem höheren Zinssatz zu berücksichtigen waren. Dieses Verhältnis hat sich in den vergangenen Jahren aufgrund der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank umgekehrt. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte mit Urteil vom 12. Dezember 2018 (Az. 5 K 12028/17) entschieden, dass die Zubilligung eines Sicherheitszuschlags bei der kalkulatorischen Verzinsung aufgrund der Entwicklung der Kreditzinsen nicht mehr als sachgerecht angesehen wird. Dennoch berücksichtigen etliche Städte und Gemeinden in der Gebührenkalkulation weiterhin diesen Zuschlag, stellt der BdSt NRW mit seiner Kommunalumfrage aus dem Jahr 2021 fest.

Auszug aus dem Großen Abwassergebührenvergleich NRW mit den relevanten Zinssätzen und den AfA-Werten (Q: Bund der Steuerzahler, Stand 2020)

NRW-Abwassergebührenzahler schauen auf Oer-Erkenschwick

Die Abwassergebührenkalkulation der Ruhrgebietsstadt Oer-Erkenschwick für das Jahr 2017 war der Musterstreitfall. Ein Bürger aus Oer-Erkenschwick hatte gegen die Festsetzung von Schmutz- und Regenwassergebühren für das Jahr 2017 in Höhe von 599,85 Euro wegen unangemessener Kalkulationsgrundlagen geklagt. Das Ver­waltungsgericht Gelsenkirchen wies die Klage zwar im Jahr 2020 ab, die Berufung des Klägers hatte nun Erfolg – das Oberverwaltungsgericht (OVG) hob den Gebührenbescheid mit seinem Urteil vom 17.5.2022 auf und erklärte ihn für rechtswidrig, weil die konkrete Berechnung von kalkulatorischen Abschreibungen und Zinsen zu einem Gebührenaufkommen führt, das die Kosten der Anlagen über­schreitet. Damit hat das OVG auch seine langjährige Rechtsprechung zur Kalkulation von Abwas­sergebühren geändert.

Die Gebühren in Oer-Erkenschwick waren insgesamt um rund 18 % überhöht. Neben einem geringfügigen Rechenfehler (doppelter Ansatz der Abschreibungen für Fahrzeuge und Geräte) lie­gen nach der nun erfolgten Änderung der bisherigen, 1994 begründeten Recht­sprechung des Oberverwaltungsgerichts zwei grundlegende Kalkulationsfehler vor:

  1. Der gleichzeitige Ansatz einer Abschreibung der Entwässerungsanlagen mit ihrem Wiederbeschaffungszeitwert (Preis für die Neuanschaffung einer Anlage gleicher Art und Güte) sowie einer kalkulatorischen Verzinsung des Anlagevermögens mit dem Nominalzinssatz (einschließlich Inflationsrate) ist unzulässig. An der bisherigen an­derslautenden Rechtsprechung wird nicht mehr festgehalten. Diese Kombination von Abschreibungen und Zinsen ist nach dem vom Gericht eingeholten Gutachten zwar betriebswirtschaftlich vertretbar, worauf das Kommunalabgabengesetz zunächst ab­stellt. Aus der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen ergibt sich aber der Zweck der Gebührenkalkulation, durch die Abwassergebühren nicht mehr als die dauerhafte Betriebsfähigkeit der öffentlichen Einrichtung der Abwasserbeseitigung sicherzustellen. Die Gebühren dürfen nur erhoben werden, soweit sie zur stetigen Er­füllung der Aufgaben der Abwasserbeseitigung erforderlich sind. Der gleichzeitige Ansatz einer Abschreibung des Anlagevermögens auf der Basis seines Wiederbe­schaffungszeitwertes sowie einer kalkulatorischen Nominalverzinsung widerspricht diesem Kalkulationszweck, weil er einen doppelten Inflationsausgleich beinhaltet.
  2. Außerdem ist der von der Stadt in der Gebührenkalkulation – ebenfalls auf Basis der bisherigen Rechtsprechung – angesetzte Zinssatz von 6,52 Prozent sachlich nicht mehr gerechtfertigt. Der hier gewählte einheitliche Nominalzinssatz für Eigen- und Fremd­kapital, der aus dem fünfzigjährigen Durchschnitt der Emissionsrenditen für festver­zinsliche Wertpapiere inländischer öffentlicher Emittenten zuzüglich eines pauscha­len Zuschlags von 0,5 Prozentpunkten für höhere Fremdkapitalzinsen ermittelt wurde, geht über eine angemessene Verzinsung des für die Abwasserbeseitigungs­anlagen aufgewandten Kapitals hinaus. Das Oberverwaltungsgericht hält es bei einer einheitlichen Verzinsung für angemessen, den zehnjährigen Durchschnitt dieser Geldanlagen ohne einen Zuschlag zugrunde zu legen. Daraus ergäbe sich für das Jahr 2017 bei der von der Stadt Oer-Erkenschwick ansonsten gewählten Methode ein Zinssatz von 2,42 Prozent.

Eine Revision hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen. Dagegen kann die Stadt Beschwerde einlegen, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet. Man wird gespannt sein dürfen, welchen Verlauf das Verfahren nehmen wird.

Welche Gebührenzahler von dem Urteil profitieren könnten

Der BdSt hatte unter dem Motto „Faire Abwassergebühren. Jetzt“ die Gebührenzahler aufgerufen, gegen ihren Abwassergebührenbescheid Widerspruch einzulegen. Nach dem Urteil feiert der BdSt den Erfolg und erklärt, unter welchen Bedingungen die Gebührenzahler von dem Urteil profitieren können: „Gebührenzahler, deren aktueller Abwassergebührenbescheid noch nicht rechtskräftig ist, werden von der Entscheidung für das Jahr 2022 profitieren. Sofern die Gebühren in der jeweiligen Kommune aufgrund der rechtswidrigen Abwassergebührenkalkulation ebenfalls erhöht sind, folgt daraus die Rechtswidrigkeit der den Gebührenbescheiden zugrunde liegenden Satzung. Dies führt zur Aufhebung der Bescheide. Wer jetzt noch einen Gebührenbescheid bekommt oder kürzlich bekommen hat, sollte daher unbedingt Widerspruch einlegen und auf die Entscheidung des OVG verweisen.“

Viele Kommunen haben die zahlreichen Widersprüche der Bürger unter Bezug auf die Rechtsprechung von 1994 zurückgewiesen. In diesen Fällen profititieren nur Bürger, die gegen die Widerspruchsbescheide Klage beim Verwaltungsgericht erhoben haben. Dies zeige, so der BdSt “wieder einmal das bürgerunfreundliche Verhalten der Kommunen. Auf Kosten der Gebührenzahler haben sie viele Jahre Gebührenüberschüsse erzielt und dem Haushalt zugeführt. In zahlreichen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten wurde dann durch die Kommunen abgeholfen, weshalb es bislang nicht durch eine Überprüfung der Rechtsprechung von 1994 kommen konnte. Die Hartnäckigkeit des Klägers und des Bundes der Steuerzahlers NRW haben sich nun endlich ausgezahlt. Ein guter Tag für alle Gebührenzahler in NRW“, schließt der Bund der Steuerzahler seine Erklärung.

Aktenzeichen: 9 A 1019/20 (I. Instanz: VG Gelsenkirchen 13 K 4705/17) https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/34_220517/index.php


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