Extreme Wasserverluste, verfehltes Ressourcenmanagement, überlaufende Kläranlagen, explodierende Wasserpreise – die englische Wasserwirtschaft steht vor dem Kollaps. Die katastrophale Entwicklung will die neue Regierung unter Keir Starmer stoppen. Ein neues Wassergesetz, das den Kunden deutlich mehr Rechte gewähren soll, ist schon angekündigt worden.
Wasserverluste – ein Beispiel für das Versagen der Unternehmen
570.000 Kubikmeter Trinkwasser gehen täglich durch defekte Leitungen des größten englischen Wasserversorgers Thames Water verloren. Jeder vierte Liter Trinkwasser verschwindet so im Erdreich, statt in den Spülbecken oder Waschmaschinen der englischen Haushalte. Aber Thames Water ist kein Einzelfall. Die Wasserunternehmen in England und Wales berichten in ihren aktuellen Annual Performance Reports von mehr als einer Milliarde Kubikmeter Wasser, die durch Lecks verloren gegangen sind. Diese Zahlen enthüllte die englische Sonntagszeitung The Observer. Zum Vergleich: Die deutschen Wasserversorger haben 2022 rund 5,3 Milliarden Kubikmeter Wasser gefördert und an die Kunden verteilt. Deren Wasserverluste liegen im einstelligen Prozentbereich.
Die Wasserverluste in England haben massive Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit, die Servicequalität und die Kosten. Ressourcenverschwendung können sich die Briten gar nicht leisten. Denn angesichts abnehmender Niederschläge oder häufigerer Starkregenereignisse bei gleichzeitig zunehmender Trockenheit schwinden die Ressourcen. Flüsse führen weniger Wasser, bei Seen und künstlichen Reservoirs sinken die Zuflüsse und mit ihnen die Wasserstände. Es gibt schon zu wenig Wasser und dann gehen Teile davon auch noch verloren. Aber viele Probleme sind nicht dem Klimawandel geschuldet, sondern den Versäumnissen in der Wasserwirtschaft und der Regulierung durch die Behörden.
Der Fall (von) Thames Water: Scheitern zulasten der Kunden
Viele Ursachen für die Entwicklung im englischen Wassersektor sind der Privatisierung des Wassersektors durch die Thatcher-Regierung geschuldet. Anders als in Deutschland, liegt die Überwachung nicht in den Händen regionaler Behörden, sondern wird staatlich ausgeübt. Im Mittelpunkt steht die Regulierungsbehörde OFWAT, die auf Basis von alle fünf Jahre einzureichenden Wirtschaftsplänen, Investitionspläne und daraus resultierende Preise genehmigen muss. Da hinter den Unternehmen private Investoren stehen, sind Interessenkonflikte vorprogrammiert. So wurde in den vergangenen Jahren immer weniger investiert, aber die Preise stiegen trotzdem. In der englischen Zeitung The Guardian wird kritisiert, die Versäumnisse würden ausschließlich zu Lasten der Kunden gehen. OFWAT habe zugunsten der Ökonomie entscheiden und soziale Aspekte vernachlässigt. Die Haushalte würden einen Hauptteil der Lasten – einschließlich der ungerechtfertigten Dividenden, Management-Boni und Akquisitionsfinanzierung – tragen müssen.
Aufgrund des massiven Investitionsbedarfs – eben auch wegen der Versäumnisse der Vergangenheit – verlangt Thames Water nun für die anstehende Regulierungsperiode von 2025 bis 2030 von OFWAT die Billigung von Wasserpreissteigerungen in Höhe von 56 Prozent. Die Behörde war im Juli von deutlich geringeren Steigerungen ausgegangen. Thames gibt sich selbstkritisch: „Thames Water stellt ein Risiko für die öffentliche Sicherheit, die Wasserversorgung und die Umwelt dar“ erklärte das Unternehmen im Juni 2024. In Wirklichkeit dürfte Thames damit subtilen Druck auf die Politik und die Überwachungsbehörde OFWAT ausüben. Es dürfte auch eine Episode des „Wasserpreispoker“ in England sein.
Schon heute können viele englischen Haushalte ihre Wasserrechnung nicht mehr bezahlen. Fünf Prozent der Haushalte sind von „Wasserarmut“ („water poverty“) betroffen. Aktuell beträgt die jährliche Durchschnittsrechnung für Thames Water-Kunden 436 £, das sind etwa 520 Euro. Prognosen zufolge müssten im Jahr 2030 durchschnittlich jährlich bis zu 696 £-Sterling für Trink- und Abwasser bezahlen, das sind umgerechnet ca. 811 Euro. Immer mehr Haushalte sind auf Nachlässe bei den Wasserrechnungen („social tariffs“) angewiesen. Aufgrund der geplanten Preissteigerungen wird damit gerechnet, dass jeder achte Haushalt in England von Wasserarmut betroffen sein wird.
Wasser wird zum Kernthema der neue Regierung Starmer
Während bei Labour vor den Wahlen häufig von Verstaatlichung der Wasserwirtschaft und von befristeter Entprivatisierung bei Thames Water die Rede war, hat sich der neue Premier Keir Starmer dagegen ausgesprochen. Und dass nachdem er von Beamten gewarnt worden war, dass der schlimme Zustand der Thames-Infrastruktur eines der dringendsten Probleme sei, mit denen die neue Regierung konfrontiert ist, berichtet THE GUARDIAN. Im politischen Raum äußert sich zunehmende Kritik am Regulierungssystem OFWAT: „But you only have to look at the water companies, and Ofwat, to see that a regulator does not guarantee a well-functioning industry, which reasonably balances the interests of shareholders and the public“, zitiert die Zeitung. Ungeachtet dessen wird nicht erwartet, dass sich Labour in Richtung Deregulierung bewegt. Erwartet wird eher, dass Thames mittelbar in staatliche Steuerung übernommen werden könnte, um die Wasserinvestitionen des Unternehmens sozialverträglicher im Sinne der Labour-Politik gestalten zu können. Noch hallt die Verantwortung der Tory-Regierung nach, wenn kolportiert wird “The election of this Labour government is a reset moment for the water industry. Over the coming weeks and months, this government will outline its first steps to reform the water sector.”
Labour-Regierung kündigt neues Wassergesetz und mehr Kundenrechte an
Bereits am 11. Juli 2024 hat der zuständige Staatssekretär für Umwelt, Ernährung und Landwirtschaft, Steve Reed, die ersten Schritte für die Reform der englischen Wasserwirtschaft vorgestellt. Demzufolge hat die Finanzierung zur Ertüchtigung von Infrastrukturanlagen absoluten Vorrang. Im Ergebnis dürften Dividendenzahlungen und Boni unsicherer werden. Zudem werden die Kunden in den Mittelpunkt gestellt und im Zuge dessen ihre Rechte deutlich gestärkt – ebenfalls zulasten der Investoren und Manager. So sollen Kunden Rechnungsbeträge zurückerstattet bekommen, wenn Wasserunternehmen ihre Ziele verfehlen. Bisher mussten diese Strafzahlungen leisten. „Water companies will place customers and the environment at the heart of their objectives“, heißt es in dem Papier. Die „neue Macht“ der Wasserkunden kommt auch durch die Befugnis zum Ausdruck, dass Vorstände und Manager der Wasserunternehmen von den Kunden vorgeladen werden können, um Rechenschaft abzulegen. „Consumers will gain new powers to hold water company bosses to account through powerful new customer panels. For the first time in history, customers will have the power to summon board members and hold water executives to account.“
Schon wenige Tage später, in der Rede des Königs am 17. Juli 2024, wurde der Entwurf eines neuen britischen Wassergesetzes (Sondermaßnahmen) angekündigt. Der Gesetzentwurf soll „die Regulierung stärken, der Wasseraufsichtsbehörde OFWAT neue Befugnisse erteilen, um die Zahlung von Prämien zu verbieten, wenn Umweltstandards nicht eingehalten werden, und die Rechenschaftspflicht der Wassermanager erhöhen.“
Das Vereinigte Königreich steht unter wachsendem Druck auf seine Wasserversorgung. Die britische Umweltbehörde schätzt, dass das Vereinigte Königreich bis 2050 zusätzliche fünf Millionen Kubikmeter Wasser pro Tag benötigen wird, um die durch Trockenheit und Bevölkerungswachstum steigende Nachfrage zu befriedigen. Gleichzeitig veröffentlichte sie ein Szenario, wonach London innerhalb von 25 Jahren das Wasser ausgehen könnte. Die Verantwortung für die Versorgung der wachsenden Metropole, die sich wie der ganze Südwesten Englands einer zunehmenden Trockenheit ausgesetzt sieht, ist: Thames Water. Ein Scheitern ist ausgeschlossen! Die Labour-Regierung will nicht abwarten, bis es zu spät ist.
Quellen und Weiterführendes
- Water firms in England and Wales lost more than 1tn litres from leaks last year, THE GUARDIAN, 8.9.2024
- Thames Water warns ageing assets pose ‘risk to public safety’, FINANCIAL TIMES, 28.6.2024
- The Guardian view on the regulatory state: Labour must put people before profit, THE GUARDIAN, Editorial, 6.9.2024
- Poor state of Thames Water a ‘critical risk’ to UK, Starmer and Reeves told, THE GUARDIAN, 8.7.2024
- Smarter regulation: Delivering a regulatory environment for innovation, investment and growth, Presented to Parliament by the Secretary of State for Department for Business and Trade by Command of His Majesty, May 2024
- Government announces first steps to reform water sector, Department for Environment, Food & Rural Affairs, Rt Hon Steve Reed, 11 July 2024
- Öffnet Thames Water’s Finanzkrise China den Einstieg in den englischen Wassersektor?, LebensraumWasser, 5.4.2024
- Explodierende Wasserpreise in England! Jeden achten Haushalt könnte die Wasserarmut treffen, LebensraumWasser, 27.11.2023
- Meeting our Water Needs for the Next 25 Years, Environment Agency, Gov UK, 21.3.2024
- Wasserverluste bedrohen Versorgungssicherheit in London, LebensraumWasser, 1.8.2019
- Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Öffentliche Wasserversorgung 2022: Über 5,32 Milliarden Kubikmeter Wasser gefördert, 8.8.2024
Beitragsfoto von David Monaghan auf Unsplash
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