Das Dilemma der Talsperren zwischen Versorgungssicherheit und Hochwasserschutz

Talsperrenbetreiber sind nicht zu beneiden. Während die niedrigen Füllstände in den Trocken-Sommern 2018 bis 2020 im Fokus standen, brachten die Starkregenereignisse der vergangenen Wochen die Talsperren beim Hochwasserschutz in den Vordergrund. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet den Stand der Talsperren und wie die Politik in NRW das Talsperrenmanagement auf Hochwasserereignisse besser vorbereiten will.

Harzwasserwerke nutzen Talsperren-Verbundsystem. Talsperren zu 60 Prozent gefüllt

Die Harzwasserwerke, der größte regionale Wasserversorger Niedersachsens und Wasserlieferant für eine Vielzahl von Städten und Gemeinden betreibt sechs Talsperren mit einem Gesamtvolumen von 182 Millionen Kubikmeter Wasser. Kurz vor dem Ende des Sommer sind die Talsperren der Harzwasserwerke zu 57 Prozent gefüllt (siehe hier) und liegen damit unter dem langjährigen Durchschnitt. Die Versorgungssicherheit sei damit trotz der trockenen Verhältnisse aber weiterhin gegeben, erklärte das Unternehmen vor wenigen Tagen.

Talsperrendaten der Granetalsperre (Q: Harzwasserwerke, 24.8.2021)

„Für viele fühlt sich der Sommer in diesem Jahr bislang regnerisch an. Im Westharz ist die Trockenheit allerdings weiter vorhanden und das langfristige Niederschlagsdefizit weiterhin gegeben“, erklärt Dr. Christoph Donner, Technischer Geschäftsführer der Harzwasserwerke. Normalerweise wären die großen Wasserspeicher im Harz zu diesem Zeitpunkt des Jahres zu 70 Prozent gefüllt. 

Im Frühjahr fürchtete Donner noch einen vierten Trockensommer. In einer Veranstaltung der Harzwasserwerke mit dem niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies Anfang Mai, schlossen die Experten vom UFZ Helmholtz-Zentrum eine Fortsetzung der Hitzeperiode für 2021 nicht aus. So schien es nur folgerichtig, mit Blick auf die ganzjährigen Sicherung der Trinkwasserversorgung bereits im Frühjahr erste Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten. Dazu nutzten die Harzwasserwerke ihr Talsperrenverbundsystem. Wassermengen wurden aus der westlich gelegenen Innerstetalsperre an die Granetalsperre weitergeleitet, um im dortigen Wasserwerk über Vorratsmengen für die Trinkwasserproduktion zu verfügen. Eine weitere Verbindung besteht zur Okertalsperre, der größten Harzwasserwerke-Talsperre. So kann das Unternehmen nicht nur auf die unterschiedlichen Anforderungen der Trinkwasserversorgung flexibel reagieren, sondern auch die Belange des Naturschutzes berücksichtigen.

Vor wenigen Jahren waren die Harzwasserwerke von Überflutungen betroffen. Dieses Jahr konnten sie Entwarnung geben. Der Hochwasserschutz sei gesichert. Alle Talsperren hätten aktuell ausreichend freien Stauraum und könnten auch größere Wassermengen aus Starkregenereignissen sicher aufnehmen. „Gleichzeitig zeigt die aktuelle Flutkatastrophe aber auch, wie schwierig das Management von Extremwetterereignissen im Rahmen des Klimawandels sein kann und welche Anforderungen dabei zukünftig infrastrukturell und betrieblich gelöst werden müssen“, erklärt Geschäftsführer Donner.

Ruhrverband vermeldet sommerliche Spitzenfüllstände

Hochsommer im Ruhreinzugsgebiet – das war in den letzten Jahren die Zeit, in der der Ruhrverband über Wochen und manchmal Monate hinweg große Mengen Wasser aus seinen Talsperren abgeben musste, um die gesetzliche Mindestwasserführung in der Ruhr aufrechtzuerhalten.

Ganz anders hingegen präsentierte sich die Situation in diesem Jahr: Weil die ungewöhnlich geringe Zuschusspflicht durch die immer wieder auftretenden Regenfälle ausgeglichen worden ist, stellte sich der Gesamtfüllstand des Talsperrensystems seit Ende April nahezu unverändert und hatte am 9. Juli mit etwas über 451 Millionen Kubikmetern einen neuen Rekord aufgestellt. Mit 113 Prozent vom langjährigen Mittel wurde ein Rekordwert für das Talsperrensystem im Ruhreinzugsgebiet an diesem Datum erreicht. Zum Vergleich: Vor genau einem Jahr waren die Talsperren um rund 72,3 Millionen Kubikmeter Wasser leerer als Anfang Juli. Im aktuellen Lagebericht vom 23. August 2021 vermeldet der Ruhrverband einen Füllstand von 87,6 %, Tendenz fallend. Dieser Stand wird von der Talsperrensteuerung des Ruhrverbandes nach entsprechenden behördlichen Vorgaben so eingestellt, dass der Abfluss das Wasserdargebot im Gesamtsystem für die jeweiligen Nutzungen sicherstellt. Hierbei geht es nicht nur um die Versorgung des Ruhrgebiets mit Wasser, sondern auch die Aufrechterhaltung der aquatischen Biologie d.h. für die Fauna und Flora im Unterlauf der Ruhr bis zur Mündung in den Rhein.

Der Blick täuscht. Der Wasserstand der Ruhr in der Nähe von Arnsberg wenige Kilometer hinter der Möhnetalsperre betrug hier mal gerade 30 Zentimeter (Foto: Gendries, 14.8.2021)

Sicherer Hochwasserschutz im thüringischen Harz

Die Thüringer Fernwasserversorgung betreibt dem Trinkwasser aus der Talsperre Ohra werden täglich rund 700.000 Menschen in Mittelthüringen versorgt. Die Talsperre dient ebenfalls Hochwasserschutzzwecken sowie der Energiegewinnung aus Wasserkraft. „Der niederschlagsreiche Winter hat die Reservoire der Thüringer Talsperren aufgefüllt, sodass deren volle Leistungsfähigkeit im hydrologischen Sommerhalbjahr jederzeit gegeben ist. Die Trinkwasserversorgung über Fernwasser ist damit auch für 2021 gesichert“, teilt mir die Thüringer Fernwasserversorgung AöR auf Anfrage mit. Die Trinkwassertalsperren im Thüringer Wald enthalten nahezu 100 Prozent des Betriebsstauziels. Ein vorgeschriebener Freiraum wird für Hochwasserereignisse freigehalten.

Konkret bedeutet dies, dass die zweitgrößte Talsperre „Schönbrunn“ bei 95 Prozent der 21 Millionen Kubikmeter-Kapazität angelangt ist. Dass die größte Talsperre Leibis/Lichte mit einem Füllstand von 76,8 Prozent des Gesamtvolumens von 25,3 Millionen Kubikmeter noch Luft nach oben hat, liegt nach Auskunft des Unternehmens in der ökologischen Steuerung der Unterwasserabgabe begründet. Die Talsperre Leibis/Lichte erlebt daher eine Auffüllung bis 100 Prozent Betriebsstauziel nur alle fünf bis zehn Jahre.

Talsperrenbetreiber stecken im Dilemma

Während die drei Beispiele zeigen, dass die Talsperrenbetreiber den Spagat zwischen Hochwasserschutz und Niedrigwassermanagement gut zu bewältigen scheinen, dürften andere sich mit Grauen an die vergangenen Wochen erinnern. Jetzt mehrt sich in den Regionen, wo die Starkregenereignisse vor vier Wochen katastrophale Folgen hatten, die Kritik am Talsperrenmanagement.

Jochen Luhmann, vormals 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig kritisiert in einem Gastbeitrag auf dem Online-Portal Klimareporter die Talsperrensteuerung des Wupperverbandes, die nicht hatte verhindern können, dass es im bergischen Land zu katastrophalen Überschwemmungen kam. Unter dem Titel „Wenn eine volle Talsperre wichtiger ist als Flutschutz“ beschreibt er das Dilemma des Talsperrenbetreibers, der kurzfristig entscheiden muss, ob er den vorsorglichen Abfluss auf der Grundlage von Wettervorhersagen mit Starkregenankündigungen erhöht, um Hochwasser im Unteranliegergebiet zu vermeiden, oder ob die Vorratshaltung für die Trinkwasserversorgung die Priorität genießt. Man muss sich dem pointiert geschriebenen Beitrag nicht vollumfänglich anschließen, aber dennoch wirft er Fragen auf, die auch von der Politik in der Krisenprävention zu beantworten sein werden.

Schaut man auf die Füllstände der Talsperren während des Starkregens am 14.7.2021, dann hätte – so erklärt es der Wupperverband – die kurze Reaktionszeit gar nicht möglich gemacht, die Pufferkapazität der Talsperre im erforderlichen Umfang durch Ablassen des Wassers zu erhöhen. „Die Talsperren müssen zum Teil gegenläufige Ziele erfüllen: Wasserbevorratung für Dürrephasen und Wasserrückhalt während Hochwasserereignissen. Dies wird eine Anpassung der bestehenden Bewirtschaftungskonzepte erfordern. Hierzu bedarf es einer Abstimmung von Behörden, Wasserverbänden und ihren Mitgliedern“, erklärt der Wupperverband in seiner aktuellen Stellungnahme vom 19. August 2021.

NRW-Landesregierung will mit Talsperrenbetreibern über Anpassung der Bewirtschaftungskonzepte sprechen

Am 9.8.2021 tagte der Umweltausschuss des NRW-Landtags in einer Sondersitzung und debattierte über den „Bericht zu Hochwasserereignissen Mitte Juli 2021“ der NRW-Landesregierung. Die Umweltministerin erklärt die Gesamtlage wie folgt: „Die Talsperren waren in den betroffenen Regionen bereits vor den ergiebigen Niederschlägen fast vollständig gefüllt. Die Talsperren-Betreiber hatten teils im Vorfeld bereits die Abgaben erhöht, um durch Vorentlastung Platz zu schaffen, soweit dies im Rahmen eines ordnungsgemäßen Betriebsablaufes möglich war.“ Auch für die Wuppertalsperre wurden nach Betreiberangaben Zuflüsse in extremer Dimension (Eintrittsfall statistisch seltener als 1 mal in 10.000 Jahren) gemessen, die durch die Talsperre anfangs aufgefangen werden konnten. Trotz Vorentlastung seit dem 12.07.2021 und kontinuierlich steigenden Wasserabgaben aus der Talsperre sprangen die Hochwasserentlastungen am 14.07. an. Am Morgen des 15.7. betrug der Spitzenabfluss der Wuppertalsperre 190 Kubikmeter pro Sekunde. Der Bericht zitiert den Wupperverband, wonach beim Erreichen des Vollstaus der Talsperre so viel Wasser aus der Talsperre abgegeben wurde, wie auch ohne Talsperre in der Wupper geflossen wäre. „Eine zusätzliche Abflussbelastung der Wupper unterhalb der Talsperre ist somit nicht entstanden“, hält der Bericht fest. Auch wenn die Talsperren eine Hochwasserschutzfunktion erfüllen, ist diese in der Regel nur für Hochwasserereignis mit einer Wiederkehrwahrscheinlichkeit von max. 100 Jahren ausgelegt.

Die Landesregierung erwartet, dass ein 10.000 jährliches Ereignis demnächst öfters eintreten kann – gleich ob Hitze oder Starkregen. „Insofern stellt sich die Landesregierung der Aufgabe darauf hinzuwirken, dass sowohl die Trinkwasserversorgung zukünftig in langanhaltenden Trockenphasen gesichert ist, als auch die Rückhalteleistung der Talsperren im Hochwasserfall einen wirksamen Beitrag zum Hochwasserschutz leisten kann.“

Die Maßnahmen konkretisiert Umweltministerin Ursula Heinen-Esser in ihren Schlussfolgerungen zur Flutkatastrophe. „Trotz der enormen Schäden durch das Hochwasserereignis haben Talsperren – unabhängig von ihrer vorgesehenen Aufgabe – einen wichtigen Beitrag geleistet haben, dass die Auswirkungen des Hochwassers nicht noch massiver waren.“ Zwar sei die Ursachenanalyse für die Katastrophe ist noch nicht abgeschlossen, aber dennoch zeige sie Handlungsbedarf auf, der auch die Rolle der Talsperren betreffe. So kündigt die Umweltministerin in ihrem Zweiten fortgeschriebenen Bericht zur Hochwasserkatastrophe an den NRW-Landtag vom 24. August 2021, „wirkungsvolle Maßnahmen zur Verringerung des Hochwasserrisikos, die sich auf eine Verbesserung des Wasserrückhalts durch Auen und andere Retentionsflächen sowie den Rückbau von Deichen beziehen.“ Hierbei bezieht sie auch die Talsperren mit ein. „Die zum Teil gegenläufigen Ziele, mit der Talsperren betrieben werden (Wasserbevorratung für Dürrephasen und Wasserrückhalt während Hochwasserereignissen) können im Einzelfall eine Anpassung der bestehenden Bewirtschaftungskonzepte erfordern. Hierzu sind zeitnahe Gespräche mit den betroffenen Wasserverbänden vorgesehen.“ Schon im Ruhrgütebericht von 2019 war von Diskussionen „zwischen dem NRW-Umweltministerium und dem Ruhrverband über einen größeren Handlungsspielraum bei der Bewirtschaftung der Ruhrabflüsse und der Talsperren“ die Rede. Man sollte nach den Ereignissen dieses Sommers eine baldige Fortsetzung erwarten.

NRW-Landtags-GRÜNE fordern Hochwasser-resilientes Talsperrenmanagement

Die GRÜNE NRW-Landtagsfraktion übt Kritik an der Landesregierung. So seien „die sogenannten ver­tieften Prüfungen von Stauanlagen an vielen Talsperren in NRW nicht fristgerecht umgesetzt“ worden. Insgesamt gehöre das Talsperrenmanagement daher dringend auf den Prüfstand. In Ihrem Antrag unter dem Titel „Wiederaufbau gestalten – den Hochwasserschutz für morgen sicherstellen!“ vom 24.8.2021 fordert die Fraktion, ein „Konzept zum Talsperrenmanagement ist zu erarbeiten, welches die voraussichtli­che Zunahme von Starkregenereignissen zukünftig ganzjährig berücksichtigt und da­mit auch im Sommer den Hochwasserschutz gewährleistet. Hierzu gehört eine Über­arbeitung der bestehenden Regeln und Bewirtschaftungspläne zu Stauhöhen, Freihalteräumen und Sedimentmanagement. Es sind ausdrücklich auch in den Sommermo­naten ausreichend Speicherreserven zur Sicherung der Unterlieger vorzuhalten.“

Wird gehandelt oder obsiegt die „Hochwasser-Demenz“?

Es gibt über 370 Talsperren in Deutschland, 70 davon versorgen nach Zahlen des BDEW rund 8 Millionen Menschen mit Trinkwasser. Ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit unserer Trinkwasserversorgung steht damit außer Frage. Nachdem in den Sommern 2018 bis 2020 deutlich wurde, wie wichtig sie für die Versorgungssicherheit sind, haben viele schmerzhaft erfahren, dass ihre Hochwasserschutzfunktion für die Menschen im Einzugsbereich der Zu- und Abflüsse von Talsperren überlebenswichtig ist. Aber es muss auch gehandelt werden.

Einen Begriff habe ich in Folge dieser Flutkatastrophen gelernt, den ich offen gestanden noch nicht kannte: „Hochwasser-Demenz“. Dieses eher metaphorisch gemeinte „Krankheitsbild“ tritt insbesondere bei PolitikerInnen und Verantwortlichen nach einer Katastrophe auf und führt zu einem Vergessen der in Anbetracht medialer Aufmerksamkeit getroffenen Ankündigungen. Eine essentielle Folgewirkung der „Hochwasser-Demenz“ ist, dass sich nach ihrem Auftreten nichts oder zumindest nicht viel ändert und wenn das nächste Mal 10.000 Jahre rum sind, sich alle wieder schockiert die Frage stellen, wie das passieren konnte.

Beitragsfoto: Gendries (Granetalsperre)

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