Sprachliche ‚Ressourcenknappheit‘ in der EU-Kommission

Nicht nur wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen, fragen sich die Wahlbürger, wie weit die Entscheidungen in Brüssel ihrer Lebensrealität entfernt sind. Regulatorische Kuriositäten wie „Krümmungsgrad der Gurke“ oder „Form der Kartoffel“ haben in vielen Small-Talk-Runden für Erheiterung gesorgt. Aber nicht immer war es lustig, wenn „Eurokraten“ tätig werden. Das betrifft auch Wasserversorgung, wie das Beispiel der Dienstleistungskonzessionsrichtlinie belegt. Hier mussten sich erst 1,8 Millionen Europabürger und die Lobbyisten zusammenfinden, um Ungemach abzuwehren. Die EU-Kommission hat bekanntlich jetzt erst einmal ihren Vorstoss zurückgezogen. Ein ähnliches Ungetüm ist das TTIP oder auch Transatlantisches Freihandelsabkommen. Auch hier formieren sich die Kritiker, nicht zuletzt weil der Verhandlungsführung unzureichende Transparenz vorgeworfen wird. Auch hier könnte die Wasserversorgung massiv betroffen werden, aber das ist eine andere Geschichte.

Mitwirkungsmöglichkeit der Bürgerschaft
Nicht zuletzt wegen der Unzufriedenheit mit EU-Entscheidungen fragt sich die wählende Bürgerschaft, wie sie auch ausserhalb der Wahlbüros und -perioden wahrgenommen werden kann. Immerhin – und auch das haben Right2Water und an andere Interessengruppen bewiesen – sind viele zur konstruktiven Mitarbeit bereit und wollen die politischen Entscheidungen mit ihrem Fachwissen unterstützen. Bei Strategien und Verordnungen, auch solchen die Wasserthemen betreffen, ist dies sogar möglich. „Konsultation“ heisst das Zauberwort. Um es gleich vorwegzunehmen: es geht hier nicht um plebiszitäre Demokratie – die Bürgerschaft wird auch damit kein Mitentscheidungsrecht erhalten. Es geht vielmehr darum, den Entscheidungsvorbereitern in der EU-Adminstration zusätzliches Fach- und Hintergrundwissen beizustellen, damit sie die Anregungen und Sorgen der Bürgerschaft berücksichtigen (könnten). Wie heisst es dazu auf der EU-Online-Plattform Ihre Stimme in Europa: „Teilen Sie uns Ihre Meinung über politische Strategien der EU mit und beeinflussen Sie ihre Ausrichtung.“ (siehe: http://ec.europa.eu/yourvoice/index%5Fde.htm) Ein fürwahr attraktiv erscheinendes Mitmach-Angebot.

Das viel versprechende Zwischenfazit lautet also: Mithilfe von Konsultationen soll es Bürgerschaft, Organisationen, Unternehmen, Verbänden etc. (eigentlich) ermöglicht werden, ihre Meinungen zu politischen Strategien der EU zu äußern und deren Ausrichtung zu beeinflussen. Konsultationen zu verschiedenen Themen werden auf der Seite der Europäischen Kommission veröffentlicht. Zumindest dieser Einstieg in die Mitwirkung ist in allen 24 Amtssprachen der EU verfügbar. Aber wenn es an die Meinung geht wird es eng. Denn: Wer sich wirklich beteiligen will, muss der englischen Sprache mächtig sein, wie Lebensraumwasser festgestellt hat. Denn die eingestellten Fragebögen sind alle durchweg auf Englisch. Daher wird es mit den Antworten eigentlich schwierig, aber die kann man in Muttersprache gegeben werden. Mithin antworten wir auf etwas, das wir nicht verstehen! Alles klar?

Obwohl wir wissen, dass Voraussetzung für eine vollwertige und gleichberechtigte Beteiligung sowie angemessene Beteiligung die Sprache ist und etwa 100 der fast 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger Deutsch als Muttersprache haben, zählt bei den Konsultationen nur Englisch.

Meinung der EU-Politiker auf Anfrage von Lebensraumwasser
Lebensraumwasser hat daher EU-PolitikerInnen zu Ihrer Meinung und was sie für die Einführung der deutschen Sprache bei der direkten Mitwirkung tun wollen bzw. können.

Dr. Peter Liese, CDU-Abgeordneter im EP, bekräftigt, dass sich Abgeordnete der CDU/CSU-Gruppe regelmäßig dafür einsetzen, dass Konsultationen in deutscher Sprache verfügbar sind. In seiner Antwort auf die Anfrage von Lebensraumwasser bedauert er, dass die Bemühungen der CDU/CSU-Gruppe bei den zuständigen Stellen für Konsultationsverfahren zu erreichen, dass dieser Fragebogen auch in Deutsch online gestellt wird, erfolglos waren. Den Grund liefert er gleich mit: mangelnde Ressourcen für Übersetzungen. Ressourcenknappheit einmal anders.

Der EU-Grüne Gerald Häfner teilt die Kritik und erklärt: „dass bei fehlender Übersetzung die Gleichberechtigung unter den EU-BürgerInnen nicht gewährt ist. Sprache ist eine zentrale Grundlage politischer Beteiligung und die Reduzierung auf eine einzige Sprache ein deutlicher Einschnitt in die Beteiligungsmöglichkeiten vieler BürgerInnen.“

Birgit Sippel MdEP der SPD kritisiert gegenüber Lebensraumwasser ebenfalls, dass die „Kommission es versäumt, ihren Internetauftritt komplett in alle Sprachen zu übersetzen, was tatsächlich erhebliche sprachliche Hürden mit sich bringt.“ Damit bestätigt sie den Nachteil jener, die zwar an den Konsultationen beteiligen wollen, der englischen Sprache aber nicht mächtig sind. Zwar räumt sie ein, dass „häufig zumindest der eigentliche Fragebogen in mehreren Sprachen angeboten wird. Die verlinkten Hintergrunddokumente der jeweiligen Online-Konsultationen sind zudem ebenfalls nur in englischer Sprache zur Verfügung gestellt.“ Genau da setzt auch die Kritik von Lebensraumwasser in Bezug auf die Äusserung der EU-Kommission zur Kampagne Right2Water an. Hatten doch die EU-Bürokraten die Meinung der 1,8 Millionen Unterzeichner zwar anerkennen müssen, aber gleichwohl bezweifelt, dass diese die englisch sprachigen Hintergrundinformationen hätten verstehen können (siehe: http://lebensraumwasser.com/2014/04/02/eu-zu-right2water-kommunale-verantwortung-bleibt/).

Ach ja, die Liberalen wurden auch gefragt, aber sie blieben sprachlos…

Fazit
Wir fassen ernüchtert zusammen: noch klafft eine Lücke zwischen Angebot und Wirklichkeit. Diese gilt es zu schliessen, damit die Eurokraten sich nicht den Vorwurf machen müssen, sie hätten es nicht besser gewusst. Zudem müssen die Konsultationen aus dem Schattendasein der EU-Onlineportale herausgehievt werden. Das wäre doch eine lukrative Aufgabe für solche EU-Parlametarier, die es ernst meinen mit der Bürgermitwirkung.
Bis dahin kann man nur hoffen, dass die Resolution des EU-Parlaments aus Juni 2012 erfolgreich sein wird, in der die Kommission aufgefordert wird, klare Leitlinien für ihre Sprachenpolitik bei öffentlichen Konsultationen aufzustellen und die Charta der Europäischen Grundrechte zu achten. Bis dahin heißt es Englisch zu lernen oder zu hoffen, dass man in Brüssel weiß was man tut. Für die Wasserversorgung zeichnet sich zunächst Ungemach in Form von wassersparenden Toilettenspülungen und Duschköpfen ab. Vielleicht ändert sich ja etwas nach den Wahlen… Bis dahin wird Lebensraumwasser auf bedeutende Wasser-Konsultationen hinweisen und darüber berichten – auf Deutsch versteht sich.

Links:
Mitwirkungsseite der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/yourvoice/

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